In einem Gebet von Martin Gutl heißt es: „Du erziehst mich zur Weite, indem Du mich aus dem Paradies vertreibst.“
In den vergangenen Monaten hat uns die Pandemie eindrücklich aus unserem Paradies vertrieben. Aus heutiger Sicht war das Vor-Corona-Leben für viele eine Zeit paradiesischer Zustände: Unbeschwerte Begegnungen, sicheres Einkommen, problemloses Reisen. Die Vertreibung aus diesem Paradies belastet und führt in die Enge: die Enge von Angst, Existenznot, Einsamkeit.
Gutls Text ist lange vor heutigen Krisen entstanden. In dem erzwungenen Verlust des Paradieses erkennt Gutl als Sinn eine Weitung, ein inneres persönliches Wachstum. Die Rolle des Erziehenden weist er dabei Gott zu.
In der hebräischen Bibel wird Gott als einer vorgestellt, der erzieht, lehrt, ausbildet oder zurechtweist. Gottes Erziehung gilt als Privileg, als Zeichen besonderer Erwählung. Sie will dem Menschen ein Leben in seiner Nähe, ein Leben im Paradies ermöglichen.
Ich denke nicht, dass Gott uns Menschen durch Krankheiten, Kriege, Naturkatastrophen o. ä. erziehen will. Das wäre zynisch! Ich glaube vielmehr an einen lebensbejahenden und menschenfreundlichen Gott, der mit uns und seiner gesamten Schöpfung leidet.
Wenn wir von einer Pädagogik Gottes sprechen wollen, dann in dem Sinne, dass leidvolle Ereignisse unseren Blick und unsere Gedanken dahingehend weiten können, Realitäten anzuerkennen. Es ist Realität, dass alle mit allen verbunden sind und alles mit allem zusammenhängt: Im persönlichen Leben, in der Weltgemeinschaft, in der Kirche.
Krisen erweisen sich dann als „Erziehungszeiten“, wenn wir gewohnte Verhaltensweisen, Haltungen oder Einstellungen überdenken und verändern. Krisen können bewirken, dass wir unsere Intelligenz, unser Knowhow, unser Mitgefühl und unsere Solidarität zum Wohle aller nutzen. „Paradies“ heißt dann ein Leben in Gerechtigkeit, Frieden und intakter Schöpfung für alle.
Monika Bauer-Stutz
Pfarreiengemeinschaft Bernkastel-Kues