Hirtenbrief zur Fastenzeit 2022

Hirtenbrief zur Fastenzeit 2022

Liebe Schwestern und Brüder im Bistum Trier!

„Können Sie in dieser Kirche bleiben?“, so hat eine Wochen­zeitung Ende Januar Katholiken gefragt. Zwei Dutzend Personen haben geantwortet: Frauen und Männer, Junge und Alte, Prominente und Unbekannte (die ZEIT Nr. 5, 27. Januar 2022, S. 10f). Heraus­gekommen sind ganz persönliche Bekenntnisse: Menschen gestehen freimütig, dass sie ausge­treten sind. Andere berichten von ihrem Ringen um eine Entscheidung. Und wieder andere erklären, dass ein Kirchen­austritt für sie nicht infrage kommt. Von ihnen möchte ich einige zu Wort kommen lassen

  • Eine Politikerin sagt: „Wäre die Kirche eine Partei, wäre ich vermutlich längst ausgetreten … Kirche ist für mich aber vor allem die Gemein­schaft mit Menschen, die wie ich auf dem Weg sind, die sich bemühen, ihr Leben an der frohen Botschaft auszurichten, ihre Erfahrungen und Hoff­nungen miteinander zu teilen. Solche Menschen finde ich nach wie vor in der Kirche …“ (Bettina Jarasch)
  • Ein Ordensmann schreibt: „Wenn ich meine Zuge­hörigkeit zu Gruppen davon abhängig machen würde, dass ihre Mitglieder … und deren Geschichten moralisch sauber sind, dann könnte ich zu keiner Gruppe gehören … Kirche ist für mich nicht nur Heimat, sondern auch Auftrag. Ohne Kirche gibt es auf Dauer kein Evangelium mehr. Deswegen mache ich bei der Gleichung ‚Evangelium ja, Kirche nein‘ auch nicht mit.“ (Klaus Mertes SJ)
  • Ein TV-Moderator sagt: „Natürlich kann man noch in der Kirche bleiben, aber nicht als passives Mitglied, sondern als aktiver Kämpfer gegen alle Strömungen, die mit dem Missbrauch zu tun haben.“ (Frank Elstner)
  • Und ein anderer Moderator und Kabarettist gibt kurz und bündig zu Protokoll: „Erstens: Natürlich trete ich nicht aus. Zweitens: Will nach dem Zusammen­bruch beim Aufbau helfen.“ (Harald Schmidt)

Liebe Schwestern und Brüder, ist es legitim, wenn ich hier nur positive Stimmen zitiere? Ich meine schon. Denn der Fasten­hirtenbrief soll nicht entmutigen, sondern will im Glauben bestärken. Damit ist aber die Frage „Bleibe ich in der Kirche? Und wenn ja, warum?“ nicht beantwortet. Die Antwort kann nur jede und jeder persönlich geben. Die aktuelle Kirchen­situation fordert uns alle mehr denn je dazu heraus.

Warum bleibe ich, Stephan Ackermann, in der Kirche? Nicht nur, weil das mein Beruf ist, sondern weil ich die Kirche erleben durfte und darf als einen Lebensraum, der Menschen Entfaltung ermöglicht, der Mut macht, der mich heraus­fordert, der Menschen über soziale und nationale Unter­schiede hinweg zusammen­führt … Vor allem aber habe ich nicht nur durch die Familie, sondern durch die Kirche Jesus Christus kennen­gelernt. Und ich bin immer noch dabei, ihn mithilfe der Kirche tiefer kennen und lieben zu lernen.

Von Gewalt­erfahrungen in der Kirche bin ich glück­licher­weise verschont geblieben. Das ist nicht mein Verdienst. Das weiß ich. Sehr vielen ist es anders ergangen; und das in einer Zeit, die man nicht selten bis heute verklärt: die Zeit der Volks­kirche und des Aufbruchs nach dem Konzil. Heute sehen wir deutlich die Schatten­seiten dieser Zeit. Ihnen haben wir uns zu stellen und uns mit allen Kräften dafür einzu­setzen, dass sie sich nicht wiederholen. Mehr noch: Wir wollen eine Erneuerung der Kirche, damit sie der befreiende und heilende Ort sein kann, der sie sein soll. Dabei kommt uns Bischöfen zweifellos eine besondere Verant­wortung zu. Aber wir können dies nicht allein. Wir brauchen die wirksame Betei­ligung des Volkes Gottes. Nur gemeinsam kommen wir voran. Das meint Syno­dalität.

Und wie steht es eigentlich mit Jesus selbst? Wie denkt er über das Bleiben und das Gehen? Er selbst hat jeder Versuchung des Macht­missbrauchs wider­standen. Wir haben es eben im Evangelium gehört. Zugleich hat er um die Sünd­haftig­keit und Feigheit seiner Jünger gewusst. Er hat ihnen ihre Verleugnung und ihren Verrat auf den Kopf zugesagt (Mt 26,30-35/ Joh 13,21-27). Da wurde nichts beschönigt oder vertuscht. Da wurde Klar­text geredet. Im Garten Getsemani hat er Blut und Wasser geschwitzt (Mt 26,36-46/ Lk 22,39-44), nicht aus fehlender Tapfer­keit, nicht aus Angst um sich selbst. Jesus hat in dieser Situation in den ganzen Abgrund der Gewalt­tätigkeit geblickt, der sich durch die Geschichte der Menschheit zieht, auch durch die Geschichte der Kirche.

Als er sich ans Kreuz nageln ließ, hat Jesus seine Liebe zur Kirche, ja zur ganzen Mensch­heit besiegelt. Die Liebe des Kreuzes ist die Liebe, die an der Seite der Opfer steht. Sie ist die Liebe, die heilen kann, wo menschlich nur Schmerz ist. Sie ist die Liebe, die den Tätern die Tränen in die Augen treibt (vgl. Mt 26,75) und sie bewegt, ihre Schuld zu sehen und zu ihr zu stehen. Die Liebe des Kreuzes kann sogar aus dem Verrat eine Gabe der Liebe machen: die Eucharistie. Die Liebe des Kreuzes kommt uns da zu Hilfe, wo wir mit unseren menschlichen Kräften ans Ende kommen. Dieser Liebe des Kreuzes begegne ich in der Kirche.

Kehren wir noch einmal zur Frage des Anfangs zurück: „In der Kirche bleiben oder gehen?“ Ich weiß, dass um diese Frage zurzeit viele Diskus­sionen geführt werden in unseren Familien, im Bekannten­kreis, in kirchlichen Gruppen und Gremien … Mehr als je zuvor, sind Menschen bereit, offen über ihre negativen Erfahrungen in und mit der Kirche zu sprechen. Das ist gut und wichtig. Aber das ist –Gott sei Dank – nicht die ganze Kirche. Sie ist mehr als ihre Kriminal­geschichte, die momentan alles andere zu über­schatten scheint.

Der 40-tägige Weg auf den Karfreitag und auf Ostern zu könnte der Anstoß sein, sich bewusst zu fragen: Wo konnte ich die Kirche als Heimat erfahren? Was wurde mir in der Kirche und durch sie geschenkt? Welche positiven Erfahrungen konnte ich in ihr machen, die mich auf meinem Lebensweg weiter­gebracht haben? – Und: Wo braucht Jesus mich als Glied an seinem Leib, der die Kirche ist? Wo und wie kann ich dazu beitragen, in dieser Kirche Gottes Liebe erfahrbar zu machen?

Liebe Schwestern und Brüder, lassen Sie uns mit Gottes Hilfe die Fastenzeit verstehen als eine Chance zur Besinnung und zur Erneuerung und auch als eine Gelegen­heit, uns in unserem gemeinsamen Kirchesein bestärken zu lassen. Dazu segne uns der drei­faltige Gott, X der Vater und der Sohn und der Heilige Geist. Amen.

Ihr Bischof Dr. Stephan Ackermann